Die Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben

Interview mit einem ehrenamtlichen Berater

Gerhart Gross ist seit 1991 Mitglied der DGHS und seit 2008 ehrenamtlich als Ansprechpartner für Mitglieder und alle Interessierten tätig. Der Schwerpunkt seiner Aktivitäten lag während der ersten Jahre auf der Hilfe bei der Erstellung von Patientenverfügungen. In München organisiert er einen Gesprächskreis mit Experten zu wechselnden Themen wie Demenz, Organspende, Pflegerecht, Palliativmedizin, Medikamente, rechtliche Entwicklungen etc. Seit 2009 ist er Delegierter der DGHS und koordiniert als sog. Kontaktstellenleiter die Aktivitäten im südbayrischen Raum.

Die DGHS versteht sich als Menschenrechtsorganisation und nicht als Sterbehilfeverein. Denn zum selbstbestimmten Leben gehört nach Ansicht des Vereins das selbstbestimmte Sterben. Die DGHS vermittelt daher ihren Mitgliedern die Möglichkeit dazu. Die Durchführung der Freitodbegleitung übernehmen freiberuflich handelnde Ärzte und Juristen. Im Vordergrund des Hilfespektrums steht allerdings das Angebot einer stets rechtsaktuellen Patientenverfügung und dazugehöriger Beratung.

Gerhart Gross, ehrenamtlicher Berater bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben
Bildrechte Gerhart Gross
Gerhart Gross, ehrenamtlicher Berater bei der
Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben.

Herr Gross, die DGHS begrüßt Interessierte mit dem Slogan "Selbstbestimmt leben, selbstbestimmt sterben" auf ihrer Homepage. Wer, wenn nicht der Tod, bestimmt denn normalerweise über das Sterben?

Gerhart Gross: Die DGHS wurde 1980 vor dem Hintergrund gegründet, dass nach den großen Fortschritten in Medizin und Technik viele Menschen sich nicht von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vorgeben lassen wollten, wie ihr Ende aussehen soll. Sie fühlten sich in ihrer individuellen Freiheit eingeschränkt durch Mediziner, Kirche oder Angehörige. Daraus entwickelte sich dann die Patientenverfügung, die seit 2009 gesetzlich geregelt ist. Mit ihr kann man frühzeitig festlegen, was man möchte und was nicht, wenn man sich in einer Situation befindet, in der man sich selbst nicht mehr dazu äußern kann.

Welche Vorstellungen und Ängste der Interessierten spielen da hinein?

Gross: Da stehen viele persönliche Erfahrungen dahinter, wenn Menschen z.B. erleben, wie Angehörige mit Demenz lange dahinsiechen und deshalb eine solche Situation für sich ausschließen wollen. Ein prominentes Beispiel ist Walter Jens, der sich als Wissenschaftler lange mit dem Thema Sterbehilfe befasst hatte und dessen Wunsch dann überstimmt wurde von anderen.

Wovor haben die Menschen, die mit Ihnen über Hilfe zum Sterben sprechen, am meisten Angst? Was hält sie, wenn sie schwer krank sind, davon ab, dem Tod seinen Lauf zu lassen?

Gross: Es ist fast nie die Angst, tot zu sein, d.h. nicht mehr zu sein. Da ist die Angst, dass Schmerzen trotz palliativmedizinischer Möglichkeiten nicht mehr aufhören. Oder in eine völlige Abhängigkeit zu geraten, die ihrem Selbstverständnis widerspricht. Auch Ärzte, Seelsorger oder Psychologen tun sich vielfach schwer, mit den Patienten über ihre Sterbewünsche zu sprechen.  Mir ist die Begegnung mit einem Gleitschirmflieger eindrücklich im Gedächtnis, der nach einem Absturz ab den Halswirbeln querschnittgelähmt war. Er hatte sich vorgenommen, eine gewisse Zeit zu versuchen, seinen Zustand durch Training zu verbessern. Als er nach drei oder vier Jahren gerade mal mit einem Finger seinen elektrischen Rollstuhl bedienen konnte, beschloss er, dieses Leben nicht mehr leben zu wollen. Denn angesichts eines Lebens in fast hundertprozentiger Abhängigkeit war er nicht mehr er selbst.

Versuchen Sie, Menschen in der Umgebung der Betroffenen als Stützen mit einzubeziehen?

Gross: Das gehört fest zu so einem Beratungsgespräch dazu. Der Patient hatte es versucht mit seinem Arzt, mit den VertreterInnen aus seinem Heim und mit psycho-sozialer Beratung. Der Tenor war immer "Wir schaffen das schon" oder "Wir können oder dürfen das nicht". Mit einem Seelsorger bzw. Glaubensdingen konnte er selbst wenig anfangen. Er suchte in erster Linie eine Person, mit der er frei über seinen Wunsch, dieses Leben zu beenden, sprechen kann. Für mich als Berater ist es wichtig, dass Eltern, Partner oder Freunde mit am Tisch sitzen.

Ist die Angst berechtigt, dass man wider besseres Wissen von der Medizin am Leben erhalten wird gegen den eigenen Willen?

Gross:  Keineswegs, deshalb ist ein Pateintenverfügung verbunden mit einer Vorsorgevollmacht so wichtig. Kernaufgabe der Ärzte und Ärztinnen ist es andererseits, Leben zu erhalten oder Leiden zu lindern. Es gibt sehr verantwortungsvolle Palliativärzte und die segensreiche Einrichtung der Spezialisierte Ambulante Palliativ-Versorgung, kurz SAPV, die eine Versorgung Schwerstkranker zusammen mit ihren nahestehenden Pflegenden zuhause oder in einer stationären Einrichtung ermöglichen kann.

Sind solche Einrichtungen hinreichend bekannt und vorhanden?

Gross: Ich würde mir wünschen, es gäbe auch im ländlichen Bereich mehr dieser Einrichtungen, die zudem weltanschaulich frei agieren. Gerade bei Schmerzpatienten ist – wenn eine Patientenverfügung vorliegt - mit einer Sedierung und Einstellung von Nahrung und Flüssigkeit und gleichzeitiger angemessener Pflege ein würdevoller Tod auch zu Hause möglich. Leider sind diese Angebote viel zu wenig bekannt. Wir besprechen mit Menschen, die sich an uns wenden, all diese Optionen.

Ein wichtiges Thema bei der jetzigen Gesetzgebungsverfahren ist die Absicherung, dass die Patienten im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten über einen selbstbestimmten Tod entscheiden. Wer kann dies bei Demenz entscheiden und den Zeitpunkt festlegen, ab wann es genug ist?

Gross: Die Medizin versucht, Verläufe von Demenzerkrankungen immer besser zu verstehen. Den Zeitpunkt im Voraus zu definieren, ab dem eine freie Einwilligungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, ist bisher unmöglich. Diese ist aber zwingende rechtliche Voraussetzung für eine Freitodbegleitung. Wir prüfen die ärztlichen Unterlagen zum Krankheitsverlauf sehr genau. Die Betroffenen und die Angehörigen müssen letztlich aber selbst sagen, wann sie den Zeitpunkt für gegeben halten. In diesem Fall hängt es noch mehr, als wenn es um Schmerzen geht, vom eigenen Mut und vom Lebenswillen der Patienten, aber auch vom Loslassenkönnen der ihnen Nahestehenden ab. Wir können nur eine Art Geländer geben.

Kann man sich als Paar oder Familie nicht auch an solch eine Situation gewöhnen und sie gemeinsam bewältigen?

Gross: Natürlich kann man das und viele versuchen es voller Hoffnung. Wenn man miterlebt hat, wenn der Zeitpunkt überschritten ist, bis zu dem es für alle Beteiligten noch ertragbar ist, kann man nur dazu raten, sich rechtzeitig Hilfe bis hin zu einem Pflegeheimplatz zu organisieren. Es ist möglicherweise hilfreich, sich in den oder die Kranke zu versetzen, eine Art Vogelperspektive einzunehmen. Hätte er oder sie gewollt, dass die Nahestehenden unerträglich mit-leiden? Demenz wird leider medial meistens etwas verniedlichend dargestellt.

In der Debatte geht es meistens um schwere Krankheit. Lassen Sie uns noch von Menschen sprechen, die nicht schwer krank, aber dennoch lebensüberdrüssig sind.

Gross: In der Schweiz gibt es kein Sterbehilfegesetz, wie es in Deutschland geplant ist. Die sogenannten Sterbehilfevereine halten sich aber strikt an die Regel, dass Sterbehilfe nur gewährt wird, wenn der Tod unabwendbar bevorsteht bzw. eine lebensbedrohende Krankheit nicht geheilt werden kann. Wir als DGHS denken, das müsste auch hierzulande möglich sein. Wir nehmen das Urteil des Bundes­verfassungsgerichts von 2020 sehr ernst und haben unsere Regeln danach ausgerichtet. Das Urteil besagt: Es steht niemandem zu, nach den Gründen für einen Sterbewunsch zu fragen. Er muss allerdings "wohl erwogen" sein, d.h. längerfristig bestehen und es muss die notwendige Einwilligungsfähigkeit da sein. Auch Druck seitens Dritter muss ausgeschlossen sein. Ein Indikator für den dauerhauften Sterbewunsch kann die mindestens sechsmonatige Mitgliedschaft in der DGHS sein. Wir prüfen sehr konkret, ob eine psychische Erkrankung oder eine Demenz die Einwilligungsfähigkeit einschränkt und damit einer Sterbehilfe generell entgegensteht.

Gibt es einen Unterschied zwischen Beratungs-Interessierten, die gläubig sind, und anderen?

Gross: Meines Erachtens nicht. Mir begegnen immer wieder Gläubige mit vollen Gottvertrauen, die sich dennoch einen selbstbestimmten Tod wünschen. Ich frage die Menschen immer nach ihrem Glauben und ob sie mit einem Seelsorgenden schon über ihre Vorstellung von Tod gesprochen haben. Ich kenne beide Situationen: Die, die sich schließlich fatalistisch in die Situation fügen und diejenigen, die trotz ihres Glaubens Herr über ihr Sterben sein wollen.

Manche möchten mit eigenem Zutun sterben, wenn sie wissen, dass sie nur noch einige Tage oder Wochen zu leben haben. Warum haben wir es heute eiliger als der Tod selber? Warum vertraut man der Natur so wenig?

Gross: Sterben und Tod sind nach wie vor stark tabuisiert. Noch immer haben viele keine Patientenverfügung. Ohne diese sind Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen, Sedierung etc. gar nicht möglich, aber viele verdrängen dies. Ich schätze, 90 Prozent der Menschen hören erstmals von den Möglichkeiten der Palliativmedizin etc., wenn es ganz konkret für sie oder ihre Angehörigen wird. Aber 96 Prozent aller Todesfälle in Deutschland haben eine natürliche Ursache – das Vertrauen in die Natur scheint mir vor diesem Hintergrund ziemlich groß.

Wie viele Beratene entscheiden sich dann tatsächlich für ein begleitetes Sterben durch Medikamente?

Gross: Beim Verein EXIT Deutsche Schweiz gibt es Statistiken über Jahrzehnte hinweg, die besagen, dass zwischen 70 und 80  Prozent der Beratenen die Sterbehilfe tatsächlich in Anspruch nehmen. Den Anfragen bei mir entnehme ich das ähnlich: Sterbehilfe ist die Ultima Ratio. Ich kenne für Deutschland keine Statistik, aber ich selbst erlebe, dass viele sehr erleichtert sind, wenn sie frei über ihre Ängste reden konnten. Und manchmal stellt sich raus, dass die Person sich in einem Heim einfach sehr einsam fühlt, z.B. weil sie nur demente Zimmernachbarn hat. Da hat auch schon der Anstoß zum Wechsel des Heims geholfen.

Die DGHS spricht sich deutlich gegen eine Beratungspflicht vor dem begleiteten Suizid aus, die einige Gesetzentwürfe fordern. Warum?

Gross: Beratungspflicht heißt gleichzeitig auch, dass die Betreffenden sich rechtfertigen müssen. Und das widerspricht der Vorgabe des Verfassungsgerichts, dass keiner sich wegen seines Sterbehilfewunsches rechtfertigen muss. Ich informiere und zeige Handlungsalternativen auf, aber in einer ergebnisoffenen Weise. So kann der oder die Hilfesuchende sich selbst ein Urteil bilden. Die evangelische Kirche hat, finde ich, eine sehr schöne Haltung gefunden nach dem Motto "Wir stehen für das Leben, aber akzeptieren den Willen unserer Mitglieder." Nicht einengend „Wir beraten für das Leben“.  Die Gründe, warum ein Mensch nicht mehr leben will, kann und muss letztlich nur er oder sie selbst verstehen.