Gedanken zum Begriff Selbstbestimmung

Elementar und voraussetzend ist in allen Debatten um die assistierende Sterbehilfe der Begriff "Selbstbestimmung".  In Bezug auf den Sterbewilligen bedeutet dies konkret: Es muss sein freier Wille sein, sich für das assistierte Ableben zu entscheiden.
Da sich unser Denken und Handeln immer in Beziehung zu unserer Umwelt vollzieht, muss dieser freie Wille aber genau definiert werden. Dies setzt intensive Information der Betroffenen und der ihnen Nahestehenden durch professionelle Begleitpersonen voraus.

Aber auch wenn diese Begleitung gegeben ist, bleibt die Definition von "Selbstbestimmung" und "Freiverantwortlichkeit" bedenkenswert und muss im Verlauf einer Behandlung oder einer Sterbebegleitung immer wieder überprüft werden.

Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen

Das Persönlichkeitsrecht beinhaltet laut dem Urteil des BVerfG das Recht auf selbstbestimmtes Sterben:

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (art. 2 abs. 1 i.V.M. Art. 1 abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen.

Die Urteilsbegründung betont aber auch die Widersprüche, die sich aus der Rechtslage ergeben:

Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen.

Diese Definition von Selbstbestimmung und Selbstbestimmtheit kollidiert (nicht nur) in der Kirche mit dem Gebot zum Schutz des Lebens, dem Verbot "Du sollst nicht töten". Zuwendung zum Leben in all seinen Stadien und zum Menschen in jeder Lebenslage sind grundlegend für das Selbstverständnis des Christentums.

Freiheit nur in Beziehung zur Umwelt

Ohne den Begriff Selbstbestimmung einengen zu wollen, definiert ihn der evangelische Glaube aus einer anderen Perspektive: Der Mensch steht immer in Beziehungen, zu Gott und zu seinen Mitmenschen. Damit sind Entscheidungen und Handlungen des Eizelnen Grenzen gesetzt. Die Autonomie in Bezug auf das Lebensende bezieht diese Beziehungen mit ein. Dies widerspricht grundsätzlich der sehr weitreichenden Definition des Selbstbestimmungsrechts durch das Bundesverfassungsgericht.

Der Bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm weist zudem darauf hin, dass die individuelle Entscheidung keinesfalls isoliert gesehen werden kann. Die Selbstbestimmung des Individuums ist nicht vorstellbar ohne die Relationalität in komplexen sozialen Gefügen. Der Wunsch nach einem assistierten Suizid und das damit verbundene Selbstbild prägen unweigerlich auch die Gesellschaft, so Bedford-Strohm.

In ihrer "Evangelischen Perspektive zum legislativen Schutzkonzept bei der Regelung der Suizidassistenz" erläutert die EKD:

Für die Evangelische Kirche in Deutschland ergibt sich das Selbstbestimmungsrecht aus dem Glauben, dass Gott jeden Menschen einzigartig geschaffen und mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet hat. Das evangelische Verständnis zeichnet die Selbstbestimmung aber in die Beziehungen ein, in denen der Mensch steht: zu Gott, der ihn ins Leben gerufen hat, und zu den Mitmenschen, in deren Gemeinschaft er sein Leben führt. Beide Beziehungen ermöglichen und begrenzen die Freiheit des eigenen Lebens. Daraus ergeben sich die Leitlinien für den Umgang mit dem Suizid: Das Gebot, menschliches Leben, fremdes und das eigene, zu schützen, gilt umfassend.

In: https://www.ekd.de/evangelische-perspektiven-fuer-ein-legislatives-schutzkonzept-56633.html

Ähnlich argumentieren die katholischen Bischöfe und leitenden evangelischen Geistlichen in Niedersachsen und Bremen in ihrem ökumentischen Positionspapier:

Selbstbestimmung zielt nicht auf ein Handeln nach Belieben; denn die menschliche Freiheit schließt Verantwortung mit ein. Diese Freiheit kann auch missbraucht werden oder misslingen. Einzelne sind immer eingebunden in soziale Bezüge. Was jemand will und tut, wird von anderen beeinflusst und beeinflusst andere; das gilt auch für Suizide. Diese Relationalität ist für eine Selbstbestimmung in Freiheit konstitutiv.

In: https://www.landeskirche-hannovers.de/oekumenischestellungnahme

Respekt vor dem Willen der Anderen

Den Wunsch eines Anderen zu akzeptieren, heißt nicht, dass man die Entscheidung vollständig nachvollziehen muss. Wenn man jemanden leiden sieht, fällt das Verständnis für einen Sterbewunsch vermutlich leichter. Doch auch das Maß, wieviel Leiden auszuhalten ist, ist individuell unterschiedlich.

Manche Suizidwillige sind weder todkrank noch leiden sie an unerträglichen, nicht linderbaren Schmerzen. Sie sind des Lebens satt, wünschen sich aus dieser Welt. Wie stehen Seelsorger, Pflegerinnen und Angehörige in diesen Fällen zum Todeswunsch?

Die Achtung vor der Entscheidung eines Menschen, auch wenn man sie nicht gutheißt oder teilt, ist notwendig für ein gelingendes Miteinander. Dazu gehört es, die Entscheidung für einen Suizid zu respektieren - auch wenn man sie nicht teilen mag.

In dem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konkretisieren Professor Reiner Anselm, Professorin Isolde Karle und Pfarrer Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland eine differenzierte Haltung:

In dieser Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstbestimmung gibt es keine Differenz zwischen dem Urteilstenor des Verfassungsgerichts und der Position der evangelischen Ethik. Die Selbstbestimmung anzuerkennen und zu fördern bedeutet selbstverständlich nicht, jede Handlungsweise gutzuheißen oder sich gar mit ihr zu identifizieren. Aber es bedeutet, den unterschiedlichen Formen, das eigene Leben zu gestalten, Respekt entgegenzubringen - auch wenn sich diese Gestaltung darauf bezieht, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.

Suizidalität und Depression

Häufig wird angenommen, dass Menschen, die sich den Tod wünschen, eine depressive Phase durchleben oder chronisch an einer Depression leiden. Daraus wird gefolgert, dass sie a) medikamentös oder durch Therapien aus dieser depressiven Stimmungslage befreit werden können und/oder b) nicht die Voraussetzung für die "uneingeschränkte Zurechnungsfähigkeit" bzw. "Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte" aufweisen, die in der Mehrheit der Gesetzentwürfe zum Assistierten Suizid für die Freigabe verlangt werden. Dass sie also nicht frei und selbstbestimmt entscheiden.

Peter Brieger, Susanne Menzel und Johannes Hamann schreiben dagegen:

[Es kann] aus der Tatsache, dass es bei Menschen mit einer bekannten psychischen Erkrankung zu einer krankhaften Einengung des Denkens hin zum Suizid kommen kann, nicht notwendigerweise darauf geschlossen werden, dass die psychische Erkrankung ursächlich für die Suizidalität sein muss.Vielmehr kann z.B. eine als unerträglich empfundene Lebenssituationden Hintergrund für eine akute psychische Krise mit daraus resultierender Suizidalität bilden. In derartigen Situationen spielt zwar eine Eingeschränktheit
des Willens in der suizidalen Entscheidungssituation eine Rolle, wichtiger als eine rein medizinisch-psychiatrische
Einschätzung und Einordnung erscheint hier aber der Blick auf Lebensverhältnisse, soziale Einbindung, Unterstützung in sensiblen Phasen von Lebensübergängen (Adoleszenz; Alter . . . ) und Hilfen aller Art je nach Problematik (z.B. Palliativmedizin).

In: Wird die Rolle von psychischen Erkrankungen beim Suizid überbewertet?

Die Beurteilung der psychischen Situation und des festen Willens der Menschen mit Todeswunsch ist folglich ein Prozess, der von einem multidisziplinären Team zusammen mit den Betroffenen und Angehörigen erfolgen sollte.

Die Autoren weisen außerdem darauf hin, dass dies entscheidende Auswirkungen auf die Konzepte zur Suizidprävention hat.

Viele Menschen mit einer psychischen Erkrankung zeigen kein suizidales Verhalten und nicht alle Menschen, die sich ihr Leben nehmen, haben eine psychische Erkrankung. Diese Erkenntnisse haben erhebliche Konsequenzen für die universale und indizierte Prävention von Suiziden. (ebd.)

Die Selbstbestimmung der Menschen im Umfeld

Für Angehörige, Pflegende, Ärzte und andere Personen im direkten Umfeld der Menschen, die einen Suizid anstreben, ist die Situation und die Beratung belastend. Auch für sie gilt das Recht auf Selbstbestimmung - und damit das Recht, eine wie auch immer geartete Hilfe beim Suizid abzulehnen.

In ihrer Orientierungshilfe 02.2022 schreibt die Diakonie Deutschland:

Niemand - auch keine Angehörige und kein Angehöriger medizinischer oder pflegerischer Berufe - kann zur Unterstützung eines Suizids verpflichtet werden.